Montag, 2. Juni 2014

Anschaffen und Koksen steigern BIP

«Sex, drugs and GDP», titelte die renommierte «Financial Times» am Freitag auf ihrer Frontseite. Der Grund für diese ungewöhnliche Schlagzeile in der Wirtschaftszeitung: Grossbritannien hat angekündet, das Geschäft mit illegalen Drogen und sexuellen Dienstleistungen ab September in seiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung berücksichtigen zu wollen. GDP ist das englische Kürzel für Bruttoinlandprodukt (BIP).

Die englischen Statistiker schätzen den Beitrag von 60 879 Prostituierten zur jährlichen Wirtschaftsleistung auf 5,3 Mrd. £. Dies unter der Annahme, dass die Sexarbeiterinnen 25 Kunden pro Woche bedienen und dafür im Schnitt £ 67.16 in Rechnung stellen. Drogendealer steuern angeblich 4,4 Mrd. £ zur Wirtschaft der Insel bei – wobei die Statistiker mit einem Heroin-Strassenpreis von 37 £ pro Gramm kalkulieren. Mangelnden Sinn fürs Detail kann man den Behörden sicher nicht vorwerfen. Dank der Berücksichtigung des Lasters wird das britische BIP über Nacht um umgerechnet fast 15 Mrd. Fr. steigen.

Im Rahmen einer Revision ihres BIP addieren die Briten zudem weitere, schwierig zu messende Aktivitäten auf, etwa den wirtschaftlichen Beitrag von Bürgern, die ihr Haus selber bauen, oder Dienstleistungen von Nonprofitorganisationen. Mit der Revision wächst die britische Wirtschaft wundersam um 2,3%. Zuvorgekommen sind den Briten allerdings wieder einmal die Italiener. Rom hatte schon am 22. Mai angekündet, dass ab Herbst auch die unternehmerischen Tätigkeiten des Drogenhandels, der Prostitution sowie Alkohol- und Zigarettenschmuggel im italienischen BIP berücksichtigt würden.

Bereits 1987 sorgten unsere südlichen Nachbarn für Furore, als sie die Schattenwirtschaft ins BIP aufnahmen. Das war damals gut fürs kollektive Selbstbewusstsein, denn die italienische Wirtschaft machte auf dem Papier einen Sprung um 18%. Dank diesem als «sorpasso» (Überholung) gefeierten Trick überrundeten die Italiener wirtschaftlich die Briten.

Behördlich empfohlen

Wer es fragwürdig findet, dass London und Rom ihr BIP um Drogen, Schmuggel und Sex erweitern, muss wissen, dass die beiden Länder damit lediglich europäische Empfehlungen umsetzen. Das europäische System volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen will, dass Länder auch illegale Aktivitäten berücksichtigen, solange alle Beteiligten in diese einwilligen. Das ist für die Länder zwar schwierig umzusetzen, aber nur konsequent: Das BIP misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die ein Land im Jahr produziert, und hat keine moralische Dimension.
Und die Schweiz, als Musterschülerin, die sie für gewöhnlich ist, hat ihr BIP bereits 2012 um die Aktivitäten Schmuggel, Prostitution und Drogen ergänzt. Die Experten bei der Zollverwaltung, welche die BIP-relevante Schätzung von Schmuggel und Drogen erarbeiteten, waren am Freitag nicht erreichbar. Doch allein die Berücksichtigung des Sexgewerbes habe damals das Schweizer BIP um 0,5% anschwellen lassen, sagt Philippe Küttel, Sektionschef beim Bundesamt für Statistik. Insgesamt stieg das Schweizer BIP infolge der Revision von 2012 um rund 4%. Das entspricht auf dem Papier einem Zuwachs pro Kopf von immerhin rund 2875 Fr.

Diese Beispiele zeigen, dass die Berechnung des BIP keine exakte Wissenschaft ist und sich die Methoden laufend weiterentwickeln. Trotz kaum vermeidbaren Ungenauigkeiten bleibt das BIP die Referenz für den Vergleich zwischen den Volkswirtschaften verschiedener Länder. Es ist zudem die entscheidende Bezugsgrösse für die Berechnung der Verschuldung – die in Prozent des BIP ausgedrückt wird – oder auch für Wohlstands-Ranglisten, für die in der Regel das BIP pro Kopf herangezogen wird.

Besonders schwierig ist die BIP-Berechnung für die Behörden wenig entwickelter Länder, in denen oft mehr Menschen im informellen Sektor arbeiten als in einem offiziellen Anstellungsverhältnis. BIP-Wachstumszahlen dagegen sind trotz häufigen Revisionen recht zuverlässig: Bei Änderungen der BIP-Berechnungsmethode passen die Statistiker jeweils auch die volkswirtschaftlichen Rechnungen der Vorjahre an, so dass die Vergleichbarkeit gewährleistet bleibt. Das ist wichtig zu wissen, denn derzeit künden Staaten fast im Wochentakt Anpassungen ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen an, weil ein entsprechendes Regelwerk der Uno dies vorsieht. Diese Revisionen bringen teilweise auch symbolträchtige Ranglisten durcheinander. Dank der Anpassung seiner BIP-Berechnungen löst etwa die 170-Millionen-Nation Nigeria dieses Jahr den Erzrivalen Südafrika als grösste Volkswirtschaft Afrikas ab.

Ein einmaliger Schub

Die europäischen Länder inklusive der Schweiz werden gleichzeitig Ende September Änderungen an ihrer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vornehmen. Neben individuellen Anpassungen, wie sie nun Grossbritannien und Italien angekündet haben, gibt es primär eine folgenreiche Neuerung, die alle Länder betrifft: Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, die heute noch als laufende Ausgaben taxiert werden, gelten neu als Investitionen – und heben das BIP-Niveau an.

Die Schweiz wird mit ihrem BIP von dieser Änderung überdurchschnittlich profitieren. Die Neuklassierung der Forschung und Entwicklung hat für die Schweiz nach ersten Schätzungen einen BIP-Anstieg von 2,5% zur Folge. Für die EU wird der Effekt im Schnitt 1,9% ausmachen, wie die Statistiker in Brüssel schätzen. Das Schweizer BIP legt also vergleichsweise stärker zu. Dabei handelt es sich aber um einen einmaligen Schub, der keinen Einfluss auf das künftige BIP-Wachstum hat.

Die Stärke seiner Forschung und Entwicklung passt jedoch gut ins Gesamtbild der robusten Verfassung, in welcher sich die Schweizer Wirtschaft seit längerer Zeit befindet. Seit sie durch Wirtschaftsreformen und Personenfreizügigkeit eine hartnäckige Stagnation in den 1990er Jahren hinter sich gelassen hat, ist die Schweiz zu einer Art europäischem «Tigerstaat» geworden.

Gemäss der Konjunkturforschungsstelle KOF legte die Schweizer Volkswirtschaft von 2001 bis 2010 um jährlich 1,7% zu. Das BIP der EU expandierte im selben Zeitraum um 1,4% pro Jahr. Diese Wachstumsdifferenz scheint auf den ersten Blick nicht gross, doch man sollte den Zinseszinseffekt nicht vernachlässigen, der sich über eine Dekade einstellt.

Und nach dem Ausbruch der Finanzkrise hat sich die Differenz zwischen der Schweiz und ihren europäischen Nachbarn sogar noch verstärkt (siehe Grafik). Letztes Jahr legte die Schweizer Wirtschaft 2% zu, und das BIP überschritt in absoluten Zahlen erstmals die Marke von 600 Mrd. Fr. Auch für das laufende und das nächste Jahr gestehen Konjunkturforscher der Schweiz ein höheres Wachstum zu als dem Rest Europas.

Quelle: NZZ am Sonntag 1.6.14

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