Das Infektionsrisiko ist in der Schweiz deutlich höher als in anderen
Ländern. Das Bundesamt für Gesundheit startet nun ein nationales
Qualitätsprogramm, um die Zahl der Infektionsfälle zu senken.
Rund 600 Todesfälle und 15'000 Infektionserkrankungen könnte man
jedes Jahr vermeiden, wenn in Operationssälen minimale hygienische
Standards eingehalten würden. Das erklärt Swissnoso, eine Gruppe von
leitenden Hygiene- und Infektionsspezialisten, die Spitalinfektionen
seit 1994 zu bekämpfen versucht. Doch mit unverbindlichen Richtlinien
und Empfehlungen wie «systematisches Händewaschen» und «Checkliste
durchgehen» ist es dieser Organisation bisher nicht gelungen, die
vermeidbaren Todes- und Krankheitsfälle genügend zu reduzieren. Eine
Studie zeigt, dass die Hände nur in etwa 60 Prozent der gebotenen
Gelegenheiten desinfiziert werden, wobei das Pflegepersonal
pflichtbewusster ist als die Ärzte.
Punktuelle Fortschritte sind
zwar in einzelnen Spitälern zu verzeichnen: Mit einem konsequenten
Präventionsprogramm ist es der Intensivstation des Universitätsspitals
Lausanne (CHUV) gelungen, die Zahl der Infektionen zu halbieren. Doch
insgesamt hapert es mit der Hygienequalität in Schweizer Spitälern noch
gewaltig. Deshalb will das Bundesamt für Gesundheit (BAG)
nach Aussage von Manfred Langenegger, Projektleiter Qualitätssicherung,
ab 2015 mit Swissnoso ein nationales Qualitätsprogramm starten, um die
Zahl der Wundinfektionen «wesentlich und nachhaltig zu senken». Vergleichszahlen
von Swissnoso zeigen, dass die Schweiz im Vergleich zu Ländern der EU
und zu den USA nicht einmal die durchschnittliche Qualität erreicht.
Besonders schlecht sieht es bei Operationen an Dickdarm oder Enddarm
aus: In der Schweiz erleidet jeder achte Patient eine Infektion, während
es in Deutschland nur jeder elfte ist, in Frankreich jeder dreizehnte
und in den USA jeder sechzehnte. Bei den insgesamt rund 9700
Darmoperationen pro Jahr käme es zu fast 400 Infektionen weniger, wenn
die Behandlungsqualität in der Schweiz so gut wäre wie in Deutschland,
und sogar zu fast 500 weniger, wenn die Qualität auf dem Niveau
französischer Spitäler wäre. Bei diesen Werten handle es sich um eine
«robuste statistische Aussage», schreibt Swissnoso und hält fest, dass
die Infektionsrate nach Darmeingriffen in der Schweiz «vergleichsweise
hoch» sei.
Auch nach dem Einsetzen von Kniegelenks- und
Hüftgelenksprothesen ist die Infektionsrate in der Schweiz merklich
höher als im Durchschnitt der EU. Wären die Infektionen nach Hüft- oder
Kniegelenksoperationen bei uns so selten wie beispielsweise in
Grossbritannien, könnten in der Schweiz jährlich über 300
Infektionsfälle vermieden werden. Infektionen bereiten Ärzten und
Betroffenen zunehmend Kopfzerbrechen, weil es immer mehr Keime gibt, die
gegen Antibiotika resistent sind.
Die Vergleichsstudie hatte
Swissnoso im Auftrag des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in
Spitälern (ANQ) durchgeführt. Der ANQ wird von den Kantonen, dem
Spitalverband H+ und dem Krankenkassenverband Santésuisse finanziert. An
einer Medienkonferenz im August hat der ANQ lediglich Argumente
verbreitet, die das schlechte Abschneiden der Schweiz relativieren
sollten. Die Schweiz schneide vor allem deshalb schlecht ab, weil sie
Infektionen, die erst nach dem Spitalaustritt auftreten, viel
gründlicher erfasse. Swissnoso schreibt allerdings selber, dass die
angewandte «Methode weitgehend identisch und somit vergleichbar mit
andern nationalen Erfassungsprogrammen» war. Bei den
Bypassoperationen jedenfalls muss die Erfassung von Infektionen erst
nach Spitalaustritt etwa gleich gut erfolgt sein. Denn in Deutschland
und der Schweiz traten fast 60 Prozent der Wundinfektionen erst im Laufe
eines Jahres nach der Operation auf. Doch hierzulande kam es bei einem
von 19 Patienten zu einer postoperativen Infektion, in Deutschland
hingegen nur bei einem von 34.
Der
ANQ verschwieg Faktoren, welche die Schweizer Zahlen noch schlechter
aussehen lassen könnten. Erstens hatte die Hälfte aller Spitäler nicht
mitgemacht, darunter vermutlich solche, die ein schlechtes Abschneiden
befürchteten. Und zweitens haben selbst die teilnehmenden Spitäler Daten
zu einzelnen Operationen verweigert, möglicherweise zu solchen, bei
denen sie ein schlechtes Abschneiden befürchteten. Schliesslich
gab es drittens – anders als etwa in Holland – keine unabhängige Stelle,
welche die von den Spitälern gelieferten Daten kontrollierte. Der
Möglichkeiten, Daten zu beschönigen, gibt es viele. Bereits 2009 hatte
ein Länderbericht der OECD/WHO die Schweiz kritisiert, dass sie sich «zu
sehr auf die Selbstregulierung durch die Fachgesellschaften verlässt»
und kein überzeugendes Kontrollorgan existiere. In den USA mussten
Spitäler ihre Infektionszahlen nach oben korrigieren, nachdem die
Angaben extern kontrolliert wurden.
Zu
besonders vielen vermeidbaren Infektionen komme es, wenn in
Operationssälen eine autoritär geprägte Kultur herrsche, erklärt
Professor Peter Pronovost von der Johns-Hopkins-Universität in
Baltimore, eine internationale Infektionskoryphäe. Sei der Chirurg ein
Hierarch, würden es die Anwesenden im Operationssaal nicht wagen, zu
intervenieren, falls etwas schiefzugehen drohe oder wenn der Chef nach
einem Telefon oder dem Drücken einer Türfalle die Hände nicht erneut
desinfiziere. Trotzdem erfasst Swissnoso die Infektionsraten
einzelner Chirurgen nicht. Und die Spitäler wollen nichts wissen von
Sanktionen, wenn das Personal im Operationssaal schweigt. Man wolle das
«Denunzieren» nicht fördern, lautet die Begründung. Opfer sind
Patienten, denen verlängerte Behandlungen und ein vorzeitiges Sterben
drohen.
Die
erfassten Infektionsraten der einzelnen Spitäler wollen Swissnoso und
der Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern nicht bekannt geben,
auch nicht die Häufigkeit je nach Spitaltypen – Universitätsspitäler,
Zentrumsspitäler und Regionalspitäler. Es seien «zu viele Ko-Faktoren»
im Spiel, um die Zahlen zuverlässig vergleichen zu können, sagen sie.
Bei künftigen Vergleichen wollen Swissnoso und ANQ die Infektionszahlen
der einzelnen Spitäler veröffentlichen, verspricht
Swissnoso-Generalsekretär Erich Tschirky. In einigen US-Bundesstaaten
und in Grossbritannien ist diese Transparenz längst vorhanden. Wer
eine nicht notfallmässige Darm- oder Bypassoperation vor sich hat oder
ein künstliches Gelenk möchte, bleibt deshalb im Ungewissen, wo er am
ehesten riskiert, an einer vermeidbaren Infektion zu erkranken oder
sogar zu sterben: ob in einem Universitätsspital, einem Zentrumsspital
oder einem Regionalspital. Auch die schwarzen Schafe unter den Spitälern
kann er nicht meiden.
Quelle: Tages-Anzeiger 28.10.13
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